Reiten ist für jedermann!
Therapeutisches Reiten auf der Reitanlage Rotachmühle, der Reitschule der TSG Wilhelmsdorf
Reiten ist für jedermann. Auch für Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder sozialen Behinderungen und Störungen. „Therapeutisches Reiten ist Therapie, Förderung und Sport. Es richtet sich an alle Altersgruppen und reicht dabei von Angeboten in der Frühförderung bis zum Seniorenbereich.“ So beschreibt der Pferdesportverband Baden-Württemberg e.V. auf seiner Homepage das Therapeutische Reiten. Die reiterlichen Erfolge und Fertigkeiten stehen hierbei nicht im Mittelpunkt.
Angewandt wird die Therapie zum Beispiel bei Behinderungen, wie das Down-Syndrom, Autismus, bei traumatischen Erlebnissen, Lern-, Sprach- und Aufmerksamkeitsstörungen, oder auch bei Bewegungseinschränkungen, beispielsweise nach Unfällen.
Die Reittherapie kann dabei helfen, die Symptome zu lindern und zusätzlich das Sozialverhalten und Selbstwertgefühl zu stärken. Darüber hinaus kann die Konzentration verbessert werden, die Kommunikationsfähigkeit zunehmen und sich die Motorik und Körperbeherrschung entwickeln, um nur wenige zu nennen. Besonders mit Hilfe der dreidimensionalen Schwingungen des Pferderückens, durch Impulse wie Tempo-Variationen und Schlangenlinien werden der Rumpf und die Bewegungsabläufe des Reiters gefordert.
Birgit Mecking bietet auf ihrem ungarischen Reitpony Sunny und ihrer Württemberger Stute Wenja therapeutisches Reiten auf der Reitanlage Rotachmühle an. In einem kurzen Interview mit Nadine Strobel gibt sie Einblicke in ihre Arbeit.
Wie würdest du das Therapiereiten und die Wirkung dessen in eigenen Worten beschreiben?
Birgit: Die Reittherapie geht auf jeden Patienten ganz individuell ein. Sie holt jeden genau da ab wo er gerade steht. Egal ob „schwerstbehindert“ oder nur leicht eingeschränkt. Sie gibt jedem Menschen die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln, zum Beispiel im Bereich der Sinneswahrnehmung. Das Pferd wird zum „Freund“, es verhält sich nicht wertend und akzeptiert jeden Reiter gleich.
Wie kamst du auf die Idee, Reittherapeutin zu werden?
Birgit: Ich habe mein Hobby ein stückweit zum Beruf gemacht. Ich selbst hatte diese Idee gar nicht, ich wurde gefragt ob ich die Reittherapie übernehmen möchte, da die „alte“ Reittherapeutin weggezogen ist. Da hauptsächlich Kinder und Jugendliche vom Kinderheim St. Johann bei ihr geritten sind und ich die Kinder durch meine Arbeit im St. Johann schon kannte, war die Idee naheliegend. Daraufhin absolvierte ich die Ausbildung zur Reittherapeutin in Konstanz.
Wie würdest du deine Pferde Wenja und Sunny beschreiben? Was macht sie zum Reittherapiepferd?
Birgit: Wenya ist 9 Jahre alt und vom Charakter ruhig und geduldig. Meine 10 jährige Sunny ist in allen Lebenslangen einfach eine coole Socke. Beide Pferde sind im Umgang mit den Patienten ruhig, geduldig und einfühlsam. Wenn es um eine Belohnung geht aber auch mal auffordernd. Auch bei „lauten“ oder unruhigen Patienten können beide Pferde extrem cool und gelassen bleiben. Das ist für den Patienten sehr wichtig. Es vermittelt ihm selbst ein Gefühl von Ruhe und viele werden dadurch selbst ruhiger.
Für wen ist das Therapiereiten in deinen Augen sinnvoll?
Birgit: Die Reittherapie kann für jeden Menschen sinnvoll sein, nicht nur für „behinderte“ Menschen. Auch gesunde Menschen können bei der Reittherapie lernen z.B. Ihren Stress abzubauen und neue Energie zu tanken. Hauptsächlich wird die Reittherapie allerdings von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen genutzt, um neue Sinneserfahrungen zu sammeln, positive Erlebnisse zu haben, Spaß und Freude zu empfinden. Gerade Rollstuhlfahrer haben auf dem Pferd das Gefühl sie können sich wieder selbstständig Fortbewegen, da ihr ganzer Körper durch das Pferd bewegt wird.
Wie kann man sich den Ablauf einer Therapiestunde bei dir vorstellen?
Birgit: Der Ablauf einer Therapiestunde variiert stark von Patient zu Patient. Die kognitiv fitten Patienten versuche ich schon beim Richten des Pferdes mit einzubeziehen, damit sie auch sehen und verstehen, was ein Pferd braucht damit es ihm gut geht. Bei kognitiv stark eingeschränkten Patienten macht das wenig Sinn. Für sie ist die Bewegung auf dem Pferd wichtiger. Der Ablauf einer Therapiestunde orientiert sich also an den Bedürfnissen jedes einzelnen. Während der Therapiestunde entscheidet oftmals der Patient selbst was er gerne machen möchte. So ist es möglich, verschiedene Spiele zu spielen, Entspannungsübungen zu machen oder auch einfach mal einen kleinen Ausritt bei strahlendem Sonnenschein zu genießen.
Was war das Schönste, was dir je bei einer Therapiestunde passiert ist, beziehungsweise, was hat dich am meisten bewegt?
Birgit: Ein geistig stark eingeschränktes Kind, das zudem mehrere körperliche Einschränkungen hat, dem es sehr schwer fällt die halbe Stunde auf dem Pferd durchzuhalten, wollte nach der Therapiestunde tatsächlich nicht absteigen und begann zu weinen weil es absteigen musste. Das hat mich von tiefstem Herzen berührt, weil genau dieses Kind sehr traurig war obwohl für ihn das Reiten immer sehr anstrengend ist. Das hat mir gezeigt wie wichtig meine Arbeit für meine Patienten ist.
Aufgrund der steigenden Nachfrage und ihres persönlichen Interesses an dem Thema entschied sich auch Anna Kesenheimer, die Betriebsleiterin der Reitanlage Rotachmühle, dazu, einen Lehrgang zur „Übungsleiterin im Behindertensport“ zu absolvieren. Anna, die sich bestens mit Pferden auskennt absolvierte zwei Ausbildungen zur Pferdewirtin auf namenhaften Gestüten. „Das therapeutische Reiten ist eine wichtige Säule der Reiterei, die in Zukunft weiter gefördert und gefordert werden sollte. Wir sind stolz darauf, dass wir in der Rotachmühle Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit bieten können, aufs Pferd zu steigen. Bei uns ist jeder willkommen, egal ob mit oder ohne Handicap.“
Text: Nadine Stroble
Bilder: Birgit Mecking